
Es gibt viele Gründe, Reden zu kürzen:
Das Publikum ist ausgelaugt, der Zeitplan bereits völlig überzogen, das Essen wird kalt, technische Probleme drängen zur Eile. Grausam, aber wahr: Für Sie als Redner*in ist nun die Zeit gekommen, sich von Ihrem geliebten Meisterwerk zu verabschieden, zumindest von einigen Teilen. Aber von welchen? Wie kürzt man sinnvoll, ohne die eigene Rede zu kastrieren?
Schlechte Redner*innen kleben beim Kürzen an Fakten
Ein ungeübter Speaker plant eine Rede um die Sachinformationen herum. Wenn die Zeit knapp wird, zählen nur Fakten und Argumente, alles andere wird als überflüssiger Schnickschnack ersatzlos gestrichen. Geübte Redner*innen hingegen kleben nicht an den Informationen. Sie wissen um die Wichtigkeit von Pausen, Beispielen und der Interaktion mit dem Publikum, denn all das sind die Stellen, an denen nicht nur der Verstand angesprochen wird, sondern auch die Emotionen. Wer ausgerechnet die wenigen anschaulichen, lebendigen Passagen dem Zeidruck opfert, ist somit schlecht beraten.
Gute Redner*innen kürzen adressatengerecht
Redner*innen mit Erfahrung denken adressatengerechter: Sie wollen ihr Publikum ganzheitlich ansprechen. Einen massiven Block aus Fakten und Argumente werden die Zuhörer*innen sich nicht merken können, denn sie brauchen Ruhepunkte, um das Gehörte zu verdauen und sie benötigen Abwechslung, um dem Speaker weiterhin motiviert folgen zu können. Besonders erfolgreich sind diejenigen, die bereits bei der Planung Zeitpuffer mit einbeziehen. Zu einer optimalen Redevorbereitung gehört es, nicht nur eine Reserve zum Verlängern, sondern auch mögliche Sollbruchstellen zum Kürzen in petto zu haben.
Studie betont die Wirksamkeit von Ausdrucksstärke
Schon Ende der 1960er Jahre fand Mehrabian, ein Psychologieprofessor, heraus, dass uns der Inhalt einer Aussage weit weniger nachhaltig beeindruckt als die verwendete Körpersprache. Die Art der Darstellung, wie z.B. die nonverbale Kommunikation und die Stimmführung, ist das, was bei den Zuhörenden letztendlich „hängenbleibt“. Der allgemeine Ausdruck beeinflusst das Publikum somit schneller und langfristiger als das bloße Nennen von Fakten. Das hängt vermutlich mit der Evolution und der Unterscheidung zwischen schnellem und langsamem Denken zusammen.
Schnelles und langsames Denken
Evolutionär gesehen war es früher überlebenswichtig, seinen Mitmenschen innerhalb kürzester Zeit richtig einschätzen zu können. Solche schnellen Beurteilungen finden im limbischen Teil unseres Gehirns statt. Freund oder Feind? Flucht oder Angriff? Beim ersten Eindruck geht es um sekundenschnelles Etikettieren. Und erst, wenn wir merken, dass keine Gefahr vom anderen ausgeht, können wir uns auf verbale Botschaften einlassen. Erst jetzt nehmen wir uns die Zeit, unser Gegenüber besser kennenzulernen. Erst jetzt sind wir bereit dafür, uns auf komplexere Gedankengänge einzulassen.
Kürzen Sie im Mittelteil der Rede!
Die Bedeutung des Anfangs und des Endes der Rede dürfen also nicht unterschätzt werden. Kürzen Sie nicht den ersten Teil der Rede, denn er ist wichtig, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und ebenso wenig im letzten Teil, in welchem die Kernaussage noch einmal ganz besonders intensiv und eindringlich auf den Punkt gebracht wird. Entfernen Sie lieber vorsichtig ein, zwei schwächere Argumente aus dem Mittelteil.
Rapport mit dem Publikum aufbauen
Es ist wichtig, emotionale Stilmittel bewusst einzusetzen, um den Rapport mit dem Publikum zu intensivieren: Wir erzählen Anekdoten, betonen Wichtiges, stellen anschauliche Einzelbeispiele vor, zeigen Bilder, stellen Fragen, plaudern mit einem Experten, erstellen ein Stimmungsbild. Doch die Erkenntnis um die Notwendigkeit einer emotionalen Ansprache darf uns andererseits auch nicht dazu verleiten, unsere Rede bei Zeitdruck auf sofort verständliche oberflächliche Reize zu reduzieren.
Zum ballaststoffreichen Gedankenfutter überleiten
Stellen wir uns vor, wir hielten tatsächlich gerade eine Rede. Die Zeit wird knapp, wir müssen kürzen. Dennoch entscheiden wir uns dazu, uns nicht hetzen zu lassen. Die Einleitung bleibt so, wie sie ist. Und dann, sobald wir die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen geweckt, eine positiv konzentrierte Atmosphäre hergestellt haben, gehen wir einen Schritt weiter. Im Mittelteil ist das Publikum nun bereit für gewichtiges kognitives Gedankenfutter mit vielen Ballaststoffen. Jetzt ist die Zeit für wenige, aber qualitativ starke Argumente und Sachinformationen gekommen. Nach dem Abwägen verschiedener Standpunkte und dem wie geplant dargebotenen Fazit mit abschließender Handlungsaufforderung läuft unsere Redezeit trotz vorgenommener Straffung dennoch gnadenlos aus …
Rede nicht kastrieren, sondern polieren
Macht nichts. Ziel erreicht. Die gekürzte Rede war dennoch gut. Wir haben schwächere Argumente und weniger gehaltvolle Sachinformationen gestrichen, ohne dass die Rede Schaden genommen hat. Die wesentlichen Informationen und die grundsätzliche Botschaft haben darunter nicht gelitten. Der Applaus zeigt uns, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Besser an den Fakten im Mittelteil kürzen statt an dem vermeintlichen „Schnickschnack“ am Anfang und Ende. Eine Rede ist wie ein Cocktail: Das Geheimnis liegt im richtigen Mischverhältnis.
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